Aufbauprojekt von Georges-Henri Pingusson für Saarbrücken. Foto aus: Urbanisme en Sarre. Saarbrücken ohne Jahr (1947), S. 39

Aufbauprojekt von Georges-Henri Pingusson für Saarbrücken 

Städtebauliches Modell des Aufbauprojektes von Georges-Henri Pingusson für die Stadt Saarbrücken. Foto aus: Urbanisme en Sarre. Saarbrücken ohne Jahr (1947), S.

Städtebauliches Modell des Aufbauprojektes von Georges-Henri Pingusson für die Stadt Saarbrücken 

Der Direktor der Schule für Kunst und Handwerk Henry Gowa, der Leiter der Architekturklasse Gabriel Guevrekian und Studierende am Modell zum Wiederaufbau Saarbrückens nach Plänen von Georges-Henri Pingusson. Foto: Historisches Museum Saar

Der Direktor der Schule für Kunst und Handwerk Henry Gowa, der Leiter der Architekturklasse Gabriel Guevrekian und Studierende am Modell zum Wiederaufbau Saarbrückens nach Plänen von Georges-Henri Pingusson 

Städtebauliches Modell des Aufbauprojektes von Georges-Henri Pingusson für die Stadt Saarbrücken, Blick von Westen nach Osten. Foto aus: Urbanisme en Sarre. Saarbrücken ohne Jahr (1947), S. 53

Städtebauliches Modell des Aufbauprojektes von Georges-Henri Pingusson für die Stadt Saarbrücken, Blick von Westen nach Osten 

Modell aus der Bauzeit, Ansicht von Süd-Osten. Foto aus: Kurt Hoffmann, Alex Pagenstecher (Hg.): Büro- und ­Verwaltungsgebäude. Stuttgart 1956, S. 131

Modell aus der Bauzeit, Ansicht von Süd-Osten 

Alt-Saarbücken zehn Jahre nach Kriegsende, links die Französische Botschaft. Landesinstitut für Pädagogik und Medien Saarbrücken-Dudweiler

Alt-Saarbücken zehn Jahre nach Kriegsende, links die Französische Botschaft 

Fotodokumentation des Neubaus der Französischen Botschaft zu Saarbrücken in "Natur und Technik. Zeitschrift für Kunst, Naturwissenschaft, Technik", 1955

Fotodokumentation des Neubaus der Französischen Botschaft in Saarbrücken in "Natur und Technik. Zeitschrift für Kunst, Naturwissenschaft, ­Technik", 1955 

Paul Colin, Union des Artistes Modernes (UAM), Ausstellungsplakat 1930. Foto aus: Hans Joachim Neyer (Hg.): Genormte Verführer - la course au moderne. Giessen 1993, Umschlagrückseite

Paul Colin, Union des Artistes Modernes (UAM), Ausstellungsplakat 1930 

Titelblatt der Zeitschrift "Urbanisme", 16. Jg., Paris 1947, Nr. 115, Themenheft zum Wiederaufbau an der Saar

Titelblatt der Zeitschrift "Urbanisme", 16. Jg., Paris 1947, Nr. 115, Themenheft zum Wiederaufbau an der Saar 

Titelblatt der "Bau Zeitschrift - wohnen, arbeiten, sich erholen", 1. Jg., Saarbrücken 1947, Heft 1, mit Beiträgen über den internationalen modernen Städtebau und die Planungen für den Wiederaufbau an der Saar.

Titelblatt der "Bau Zeitschrift - wohnen, arbeiten, sich erholen", 1. Jg., Saarbrücken 1947, Heft 1, mit Beiträgen über den internationalen modernen Städtebau und die Planungen für den Wiederaufbau an der Saar 

Aufbauprojekt von Georges-Henri Pingusson für Saarbrücken, Skizze: Nord-Süd-Achse mit kreuzungsfreiem Straßenverlauf. Abbildung aus: Urbanisme en Sarre. Saarbrücken ohne Jahr (1947), S. 54

Aufbauprojekt von Georges-Henri Pingusson für Saarbrücken, Skizze: Nord-Süd-Achse mit kreuzungsfreiem Straßenverlauf 

Aufbauprojekt von Georges-Henri Pingusson für Saarbrücken, Skizze: neues Regierungsviertel (links), geplante Wohnhochhäuser (rechts). Abbildung aus: Urbanisme en Sarre. Saarbrücken ohne Jahr (1947), S. 46

Aufbauprojekt von Georges-Henri Pingusson für Saarbrücken, Skizze: neues Regierungsviertel (links), geplante Wohnhochhäuser (rechts) 

Le Corbusier, Ideenskizze für Nemours, 1934. Mehrere innerhalb ausgedehnter Grünanlagen verstreut liegende "Unités d‘Habitation" bilden einen Stadtteil oder eine Stadt. Abbildung aus: Leonrado Benevolo: Die Geschichte der Stadt. Frankfurt/Main 1991, S. 932

Le Corbusier, Ideenskizze für Nemours, 1934. Mehrere innerhalb ausgedehnter Grünanlagen verstreut liegende "Unités d‘Habitation" bilden einen Stadtteil oder eine Stadt. 

Le Corbusier, Studie für den Stadtbauplan von São Paulo, Brasilien, 1929. Die Geste des in die Stadt schneidenden Achsenkreuzes, das keine Rücksicht auf vorhandene Gegebenheiten nimmt, taucht auch in Pingussons Verkehrsplanung für Saarbrücken auf. Abbildung aus: Carlo Cresti: Le Corbusier. Luzern 1969, S. 25

Le Corbusier, Studie für den Stadtbauplan von São Paulo, Brasilien, 1929. Die Geste des in die Stadt schneidenden Achsenkreuzes, das keine Rücksicht auf vorhandene Gegebenheiten nimmt, taucht auch in Pingussons Verkehrsplanung für Saarbrücken auf 

Straßenverkehrsnetz und neues Stadtzentrum für Saarbrücken, Gesamtübersicht. Planung Georges-Henri Pingusson, undatiert (um 1948, Hervorhebung der Hauptverkehrs­wege durch Dietmar Kolling 2011). Foto: Archiv der Stadt Saarbrücken, Historische Karten und Pläne, ­Bd. 2, Nr. 211

Straßenverkehrsnetz und neues Stadtzentrum für Saarbrücken, Gesamtübersicht. Planung Georges-Henri Pingusson, undatiert (um 1948, Hervorhebung der Hauptverkehrs­wege durch Dietmar Kolling 2011) 

Einbau von Arkaden in Saarbrücken nach dem Konzept von Pingusson, hier: Bahnhofstraße Ecke Schifferstraße, Kaufhaus Gebr. Sinn, 1948. Foto: Archiv Oranna Dimmig (Foto Fritz Mittelstaedt)

Einbau von Arkaden in Saarbrücken nach dem Konzept von Pingusson, hier: Bahnhofstraße Ecke Schifferstraße, Kaufhaus Gebr. Sinn, Foto 1948 

Saarbrücken, Pingusson, Aufbauplan und Französische Botschaft

Letzte Änderung: 11/12/2011

Die Französische Botschaft und der Aufbauplan von Georges-Henri Pingusson für Saarbrücken

Sieben Hochhäuser sah die städtebauliche Planung des französischen Architekten Georges-Henri Pingusson im Bereich des Saarufers von Alt-Saarbrücken vor, in Doppelreihe, streng in Ost-West-Richtung, mit der Hauptfassade nach Süden hin orientiert, jeweils etwa 12-Geschosse hoch. Die geplanten Hochhaus-Scheiben entsprachen der Idee der "Unité d’Habitation" (Wohneinheit), welche etwa zur gleichen Zeit von dem Architekten Le Corbusier in Marseille geplant und gebaut wurde (1946-52). Pingusson und Le Corbusier waren befreundete Architekten, tauschten sich bezüglich ihrer beruflichen Auffassungen gegenseitig aus und nahmen beide an den "Congrès Internationaux d’Architecture Moderne" teil. Gebaut wurde nur eines dieser Scheiben-Hochhäuser, allerdings nicht, wie ursprünglich gedacht, als Wohngebäude, sondern als "Ambassade" für den französischen Botschafter im neuen Saarstaat, Gilbert Grandval.

 


Geschichtlicher Hintergrund
Nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945 und der sich anschließenden Übernahme der besatzungsgemäßen Verwaltung des Saarlandes durch Frankreich rief der eingesetzte französische Gouverneur Gilbert Grandval zahlreiche französische Architekten ins Saarland, um bei der Planung des Wiederaufbaus, vor allem der stark zerstörten Städte Saarbrücken, Neunkirchen und Saarlouis, mitzuwirken.

Hierbei stand ihm der französische Designer und Metallkonstrukteur Jean Prouvé zur Seite, den Grandval aus der Zeit des französischen Widerstandes, genauer aus der Bewegung "Ceux de la Résistance" kannte. Prouvé hatte ihn mit den Ideen der modernen Architektur und des Städtebaus bekannt gemacht, und Grandval glaubte, mit den Mitteln des funktionalistischen Städtebaus seine (erklärten!) Besatzungsziele umsetzen zu können: "Auslöschung des preußischen Geistes, Nutzung der wirtschaftlichen Ressourcen des Saarlandes, Verewigung des Bandes, welches das Saarland an Frankreich knüpfte" (Grandval 1947, S. 87).

Grandval gründete gleich zu Beginn seines Gouvernements eine Abteilung "Wiederaufbau und Stadtplanung" innerhalb der Militärregierung und nutzte seine Verbindungen zu Prouvé, der ihm Empfehlungen für die Besetzung der zu schaffenden Stellen gab. Alle daraufhin angeworbenen französischen Architekten kamen aus dem Umfeld Le Corbusiers, gehörten der 1929 gegründeten "Union des Artistes Modernes" (UAM) an und hatten an den "Congrès Internationaux d’Architecture Moderne" (CIAM) teilgenommen. Neben Marcel Roux, Edouard Menkès, André Sive, Jean Mougenot, Pierre Lefèvre, René Herbst war dies Georges-Henri Pingusson. (Zu den Gründungsmitglieder des CIAM gehörten René Herbst, Le Corbusier, Eileen Gray, Jean Prouvé und als Präsident Robert Malle-Stevens. Vgl. Adam 1989, S. 243)

Wie sehr das Denken über das moderne Bauen in der Avantgarde der beiden Länder Deutschland und Frankreich noch bis Anfang der 1930er Jahre verknüpft war (auch Walter Gropius war von Beginn an regelmäßiger Teilnehmer der CIAM, er war ihr Vizepräsident von 1929-57. Vgl. Gropius 1955, S. 82), belegen zum Beispiel diese Gebäude: das bereits 1929-32 von Pingusson errichtete Hotel Latitude 43 in St. Tropez oder das etwa zur gleichen Zeit durch Le Corbusier erbaute Zentrosojus-Gebäude in Moskau. Beide Projekte spiegeln in ihrer Erscheinung den Einfluss des avantgardistischen Bauens der 1920er Jahre in Deutschland (Erich Mendelsohn, Thilo Schoder) und insbesondere des Bauhauses (Walter Gropius, Mies van der Rohe) wider.


Schwierigkeiten auf dem Weg zur Moderne
Der Einsatz der Architekten und Städteplaner im Saarland wurde von Grandval genau festgelegt. Pingusson sicherte sich den Löwenanteil mit dem Bebauungsplan für den Wiederaufbau von Saarbrücken. Menkès übernahm den von Saarlouis, Lefèvre jenen des Industriegebiets von Neunkirchen. Sive und Roux wurden beauftragt, den Regionalplan des Saarlandes zu erarbeiten (Baudouï 2005, S. 191).

Innerhalb eines Jahres, allerdings mit einigen späteren Anpassungen und Änderungen, wurde der Aufbau-Plan für Saarbrücken von Pingusson erstellt. Der Generalplan Pingussons wurde am 14. Januar 1947 vom Saarbrücker Stadtrat angenommen. Doch außer bei Otto Renner, Architekt, Herausgeber und Redakteur der anspruchsvollen "Bau Zeitschrift wohnen, arbeiten, sich erholen" (sie erschien nur in drei Ausgaben in Saarbrücken), fand das planerische Resultat bei den ansässigen Fachleuten und Architekten kaum Interesse und insbesondere bei den deutschen Fachplanern in den Behörden wenig Anerkennung. Renner veröffentlichte die Ergebnisse in der ersten Ausgabe seiner "Bau Zeitschrift" und die Franzosen selbst in der Zeitschrift "Urbanisme" (Bau Zeitschrift 1947; Urbanisme 1947). Gleichzeitig erschien in deutscher und in französischer Sprache, allerdings in geringer Auflage (je 1200 Exemplare), eine Broschüre mit den Resultaten der französischen Planungen für das ganze Saarland (Die Saar 1947; La Sarre 1947). Teil dieser Veröffentlichungen waren sehr anschauliche Modellfotografien, welche die Vorschläge aus der Vogelperspektive zeigten. Das zugrunde liegende Modell der Planung für Saarbrücken, das vor allem der Information der Bevölkerung dienen sollte, wurde nicht etwa im Planungsamt der Stadt Saarbrücken gefertigt, sondern von Studenten des (von den Franzosen) neu gegründeten "Centre de métiers d‘art sarrois" (Staatliche Schule für Kunst und Handwerk), wobei der Direktor Henry Gowa und der Leiter der Klasse Architektur Gabriel Guévrékian besondere Unterstützung leisteten.

Die deutschen Kollegen im städtischen Planungsamt formierten sich aber - je länger das Kriegsende zurücklag und die politischen Verhältnisse sich änderten - in zunehmender Opposition. Vor allem der Stadtbaudirektor und Leiter des Amtes für Wiederaufbau Wilhelm Feien und Karl Cartal, der Oberbaurat im Amt für Wiederaufbau, der seit 1945 Chefarchitekt und Leiter der Städtebauabteilung war, entwickelten sich zu Widersachern der französischen Initiativen (StA Saarbrücken, G60 Nr. 338, Schreiben Cartal an Pingusson vom 3.1.1947). Schnell klärten sich die Fronten: Pingusson stand für den Städtebau von morgen, Feien und Cartal waren die Beschützer des Bestandes. Pingusson sah angesichts der weitgehenden Zerstörung der Stadt die Chance, diese für die Aufgaben der Zukunft zu konditionieren, seine Widersacher reagierten auf die Herausforderungen überaus pragmatisch, sie erinnerten an die erst vor wenigen Jahren neu verlegten Abwasserkanäle und Versorgungsleitungen und lehnten neue, abweichende Straßentrassen alleine schon aus ökonomischen Gründen ab. Natürlich ging es dabei auch, wenn auch nicht ausgesprochen, um die bis zum heutigen Tag gestellte Frage was besser sei: "sich beim Wiederaufbau der Stadt an die alte anzulehnen oder das nie Dagewesene, allenfalls kühn Geträumte zu verwirklichen". (Lampugnani 1986, S. 137)



Zur Soziologie der Planungsentscheidungen
Es lag in der Natur der Sache, dass die unterschiedlichen beruflichen und gesellschaftlichen Rollen zu unterschiedlichen Positionen bzw. Verhaltensmustern zwangen. Das Elend der ausgebombten Menschen, die zu Tausenden in Behelfsunterkünften (meist Kellerräumen) hausten, ließen den unmittelbar für den Wiederaufbau Verantwortlichen (Pingusson bezeichnete Cartal als die "Exekutive") kaum Zeit zur Entwicklung eigener städtebaulicher Visionen, geschweige denn dazu, die Visionen anderer richtig zu bewerten und entsprechend einzuordnen.
Hatte sich Pingusson bei seiner Entwurfsarbeit in die akute Not und die unmittelbaren existenziellen Sorgen aber auch in den unbändigen Wiederaufbauwillen der Bevölkerung hineingedacht? Vermutlich schon. Doch der Widerstreit zwischen den Interessen und Nöten Einzelner und der Umsetzung eines am Gemeinwohl orientierten Plans für den Aufbau einer zukunftsfähigen Stadt war ohne die Mittel der Aufklärung (Presse) und eines großzügigen materiellen Ausgleichs nicht lösbar.

In der konkreten Praxis war - trotz gegenteiliger Beteuerungen - die Unterstützung für die Ideen Pingussons durch die deutschen Kollegen aus den Fachämtern eher gering. Auch ein gewisses Konkurrenzdenken ist nachweisbar. An einer Aufklärung und Beteiligung der Bürger am Planungsgeschehen, beispielsweise durch Veröffentlichung der Pläne, bestand seitens des städtischen Wiederaufbauamtes zu Beginn des Jahres 1947, nach Vorlage der ersten Pläne kein Interesse. Eine entsprechende Anfrage des Stadtamtes IVA/5 beispielsweise, die Pläne und vorhandenen Modelle über den Wiederaufbau der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, beantwortete Oberbaurat Cartal abschlägig. Schreiben von Theissen an Oberbaurat Cartal: "…nachdem durch die Stadtverordnetensitzung am 14.1.1947 der Wiederaufbauplan der Stadt Saarbrücken angenommen worden ist, erlaube ich mir die Anfrage, ob es nicht zweckmäßig erscheint, die Pläne und vorh. Modelle über den Wiederaufbau der Stadt der Öffentlichkeit zugänglich zu machen." Antwort Oberbaurat Cartal: "In Beantwortung Ihrer Anfrage v. 16.1.1947 teile ich Ihnen mit, dass die Stadtverordnetenversammlung zwar beschlossen hat, den Bebauungsvorschlag des Herrn Pingusson als Grundlage für den Wiederaufbau der Stadt Saarbrücken anzunehmen, dieser meines Erachtens aber noch zu mancherlei Kritik herausfordert und es unzweckmäßig ist, schon heute damit an die Öffentlichkeit zu treten… In einer Zeit, in der es uns nicht möglich ist, die Löcher in unseren zerschlagenen Dächern zu schließen oder die instand zusetzenden Häuser an ausgebauten Strassen bewohnbar zu machen, könnte ein konstruierter Optimismus einer peinlichen Flaute Platz machen." (StA Saarbrücken, G60 Nr. 338) Soweit die Saarbrücker Bürger aber doch durch die Presse zum Thema Pingusson-Pläne informiert wurden, reagierten sie mehrheitlich ablehnend.

 

 

Wie sähe Saarbrücken wohl aus, wären die Vorschläge Pingussons umgesetzt worden?

Dies vorweg: Wie sähe Saarbrücken wohl aus, wären die Vorschläge Pingussons umgesetzt worden? Nun, Saarbrücken wäre heute in einigen Bereichen möglicherweise attraktiver, in jedem Fall verkehrstechnisch besser erschlossen, damit zukunftsfähiger. Es gäbe keine Stadtautobahn am Ufer der Saar und keine Hochhäuser auf den umliegenden Hügeln, stattdessen einige wenige Wohn-Hochhausscheiben in Tal-Lage. Die Stadt hätte mit dem Bau einer U-Bahn begonnen (unter der Trierer- und der Bahnhofstraße) und einen Bateau-Bus-Verkehr auf der Saar. Es gäbe ein attraktives Stadtzentrum (im Bereich des ehemaligen Kohlehafens) und viele Grün- und Parkanlagen, die Messe läge an geeigneter Stelle und das Regierungsviertel an einem repräsentativen, zentralen Ort, die Fußgängerzone am St. Johanner Markt wäre schon 30 Jahre früher eingerichtet worden, die Umgehungsstraße durch das Deutschmühlental zusammen mit der Schanzenberg-Brücke nach Malstatt und Burbach wären längst gebaut. Um Saarbrücken herum gäbe es einen Autobahnring in Form von Tangenten...



Der alltägliche Konflikt
Die Auffassungen der deutschen Architekten und des französischen Chefplaners Pingusson klafften demnach gewaltig auseinander. Ein Schreiben der Verwaltungskommission des Saarlandes für Wirtschaft und Verkehr vom 21. Juli 1947 an die Abteilung Städtebau und Wiederaufbau (Reconstruction et Urbanisme) erzählt viel über die Art des Mit- bzw. Gegeneinanders: "Hochverehrter Herr Directeur! Ich habe die Ehre, Ihnen in Abschrift den Bericht der Stadt Saarbrücken betreffend die Unterbringung von 100 Familien, die sich z. Zt. in Elendsunterkünften befinden, zu unterbreiten. Die Stadt Saarbrücken schlägt vor, diese Familien anstatt in Holzbaracken, in von ihr angegebenen, instand zusetzenden Gebäuden noch vor Eintritt des Winters unterzubringen, wenn ihr die angegebenen Baustoffe sofort zugeteilt werden könnten. Die Instandsetzungen würden auf Kosten der Gebäudeeigentümer erfolgen" (StA Saarbrücken, G60 Nr. 339 Akte 35, übersetzter Text). Doch an einem der aufgelisteten Gebäude war es bereits zu Bautätigkeiten gekommen, welche Pingusson zu einer Aktennotiz für "Herrn Cartal" veranlassten: "Es ist mir bekannt geworden, dass die Wiederaufbauarbeiten des Hauses Zastrostraße 2 auf dem Punkt sind, in Angriffe genommen zu werden. Ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass, wenn diese Arbeiten ohne die Genehmigung du Gouvernement Militaire ausgeführt werden, ich ... das Bauamt verantwortlich mache und mir alle Konsequenzen, die eine derartige Initiative in sich birgt, vorbehalte" (StA Saarbrücken, G60 Nr. 339 Akte Nr. 59, übersetzter Text der Aktennotiz v. 30. Juli 1947). Der Wiederaufbau des Gebäudes stand den Neuplanungen Pingussons entgegen.


Vision eines Stadtumbaus nach den Prinzipien der "Charta von Athen"
Pingusson, im Innersten von seinen Ideen eines humanen Städtebaus überzeugt, hatte die Erwartung, dass sich die Saarbrücker Bevölkerung für seine Vorschläge begeistern würde. Da die Kernstadt durch den Bombenkrieg sehr stark zerstört war, sah er sich legitimiert, in freier Entfaltung seiner fachlichen Fähigkeiten die modernen Städtebautheorien ohne Rücksicht etwa auf gegebene Parzellenstrukturen oder Eigentumsverhältnisse umzusetzen. Doch im Denken der Menschen war für Zukunftsvisionen kein Platz. Sie hatten andere Sorgen. Das wichtigste war ihnen ein Dach über dem Kopf sowie das bisschen Besitz, das ihnen vielleicht geblieben war, die kleine Parzelle mit einer Ruine, vor einer eventuellen Enteignung zu retten. Sie wollten das Häuschen, so wie es früher einmal ausgesehen hatte, schnell wieder aufbauen. Und keinesfalls wollten sie in eine 12-stöckige "Wohnmaschine", wie die Wohnhochhäuser damals auch genannt wurden, ziehen, um dort zu leben.

Pingussons Irrtum war es, ein Stadtgebiet, wenn auch ein zerstörtes, also eine Trümmerlandschaft, zu bewerten wie unbesiedeltes Terrain, wie die "grüne Wiese", wo man frei und ohne Rücksichten hätte walten können. Was er wollte, war nicht die "Trabantenstadt" draußen, außerhalb der alten, in ihrer Struktur noch bestehenden Stadtlandschaft (etwas ähnliches hat beispielsweise im britischen Sektor Deutschlands, nämlich in Hamburg mit einer sehr ähnlichen Hochhausstruktur wie sie Pingussons Plan vorsah, fast problemlos funktioniert, vgl. Hoffmann 1987, S. 64), sondern er wollte die Umwandlung, die völlige Überformung der vorhandenen Stadt, er wollte die "funktionelle" Stadt. Das war nach den Theorien der europäischen Architektur-Avantgarde die Stadt, welche den Prinzipien der "Charta von Athen" folgte. Diese Resolution des Kongresses CIAM IV - welcher 1933 an Bord der Patris II auf dem Weg von Marseille nach Athen durchgeführt wurde - formulierte in zahlreichen Thesen städtebauliche Zielsetzungen. In einer von Le Corbusier während der deutschen Besatzungszeit in Paris anonym verbreiteten Schrift wurden diese Thesen für ein größeres Publikum erstmalig öffentlich gemacht.

In der These Nr. 77 heißt es: "die Schlüssel zum Städtebau liegen in folgenden vier Funktionen: wohnen, arbeiten, sich erholen, sich bewegen (Verkehr)" und in der These 78 heißt es weiter: "die Planungen werden die Struktur jedes den vier Schlüsselfunktionen zugewiesenen Viertels bestimmen, und sie werden deren entsprechende Lokalisierung innerhalb des Ganzen fixieren" (Le Corbusier 1962). Es ist die Geburt des "funktionellen Städtebaus", von den meisten Architekten (etwas verkürzt) als Aufforderung verstanden, die vier "Schlüsselfunktionen" stadträumlich zu separieren.

Pingussons "Plan pour la reconstruction de Sarrebruck" jedenfalls bestand im Kern in einer Modernisierung der Verkehrsinfrastruktur und - was die bauliche Strukturierung betraf - auch in der Neuordnung der städtischen Funktionen. Historische Orte wie z. B. der St. Johanner Markt, das Saarbrücker Schloss oder - trotz erheblicher Zerstörung - der Ludwigsplatz mit der Ludwigskirche waren für Pingusson Monumente von besonderer historischer Bedeutung. Diese stellte er unter Schutz.

Die Funktion "Wohnen" verlegte er im Wesentlichen auf die Saarbrücken umgebenden Hügel ("für Wohnbauten in freier Bauweise") bzw. in Hochbauten, z.B. in das Quartier der heutigen Bruchwiese und an das linke Saarufer in Alt-Saarbrücken, im Bereich Keplerstraße bis Schanzenbergbrücke. Hier situierte er erst sieben, in einer späteren Entwurfsvariante vier Hochhäuser als Zeilenblöcke in einem Viertel mit der Plan-Bezeichnung: "Zone Administration privé et Habitation haute" (Urbanisme 1947, Faltplan zwischen Seite 106 und 107). Diese von Pingusson hier vorgesehenen Wohnhochhäuser belegten ein Gebiet, das durch den Krieg bis zu 90 Prozent zerstört und vor dem Krieg kleingewerblich und durch mehrgeschossige Wohnbauten bebaut war. Doch der Plan zum Bau von Hochhäusern zum Wohnen fand in Saarbrücken kaum Zuspruch. Die negativen Nachrichten aus Marseille mögen die Skepsis der Saarbrücker noch verstärkt haben. Dort intrigierte man gegen das Projekt einer Unité d’Habitation, welches Le Corbusier gerade zu bauen begonnen hatte (1946-1952). Ein perfides Gutachten prognostizierte die Entwicklung von Geisteskrankheiten bei den künftigen Bewohnern und löste damit eine landesweite Kontroverse aus (Cohen 2004, S. 57).



Die vertikale Gartenstadt Le Corbusiers: ein Konzept für Saarbrücken?
In Saarbrücken waren die Wohnbauvorschläge Pingussons praktisch chancenlos. Heute stellt sich die Frage, warum die nur wenige Jahre später in den 1960er und 1970er Jahren auf Saarbrückens Hügeln realisierten zahlreichen Wohnhochhäuser eher akzeptiert wurden als das französische Konzept der "Unité d’Habitation", das Pingusson nach Saarbrücken importieren wollte. Le Corbusier nannte es auch "vertikale Gartenstadt". In Marseille ist die "Wohneinheit" so konzipiert: 165 m lang, 24 m tief, 56 m hoch, sie besteht jeweils aus mehrgeschossigen, gestapelten Wohnungstypen, insgesamt 336 und einer Fülle von sozialen Einrichtungen. "Der Zugang zu den Appartements erfolgt durch fünf übereinander liegende 'innere' Straßen (Flure). In halber Höhe des Gebäudes befindet sich die 'Straße' mit den Lebensmittelgeschäften, mit Zubringerdiensten in die Wohnungen. Ein Restaurant und ein Tea Room dienen der Verpflegung. Ferner sind vorhanden: Wäscherei... Drogerie, Friseur, Post, ... Buchladen, Apotheke. An der gleichen inneren Straße liegen die Hotelzimmer für die Gäste. Im obersten, dem 17. Stockwerk, sind Krippe und Kindergarten eingerichtet, die mit einer für Kinder reservierten Dachterrasse mit Schwimmbassin verbunden sind. Auf dem Dachgarten befinden sich Aussichtsturm, Sonnenbad, Turnhalle..." (Huse 1976, S. 91). "Jede Wohnung ist zwei Stockwerke hoch und hat einen 'Ziergarten', ein Zimmer ohne Außenwände, das auf gleicher Höhe mit dem Wohnraum liegt." (Der Spiegel 1952) Le Corbusier hat viele Jahre, unter Hinzuziehung zahlreicher Experten, gearbeitet und experimentiert. Die "cité radieuse", wie das Wohnbauprojekt auch genannt wurde, ist aus Sicht der meisten Architektur-Historiker Le Corbusiers berühmtester Beitrag zur modernen Architektur. Dass es seiner Zeit voraus war, hat Le Corbusier anfangs in Marseille und später auch in anderen Orten (Berlin) zu spüren bekommen und in gleicher Weise Pingusson in Saarbrücken. Die Bevölkerung und die örtlichen Planer in Saarbrücken jedenfalls lehnten eine Hochhausbebauung strikt ab. In einer Aufstellung der Unterscheidungsmerkmale zwischen der Planung Pingussons und den Wiederaufbauabsichten der Stadtbauverwaltung (1946) stellt Cartal fest: "Zum Schluss ... sei die Auffassung der Stadtverwaltung bezüglich der durch die französische Militärregierung geplanten Hochhausbebauung dargelegt. Abgesehen von der städtebaulichen Veränderung, die das Stadtbild durch diese neue Bebauungsform erfahren haben würde, hält das Wiederaufbauamt die Durchführung dieser Bauten nur unter ungeheueren finanziellen und materiellen Aufwendungen für möglich, die bei der wirtschaftlichen Notlage der Stadt auf Jahre hinaus nicht verwirklicht werden kann. ... Neben... technischen Schwierigkeiten bestehen Bedenken bezüglich der Verwendung dieser Hochbauten für Wohnzwecke. Bei der wirtschaftlichen und sozialen Einstellung der Saarbevölkerung dürfte dieses amerikanische Wohnungssystem wenig Anklang finden und nur von einem verhältnismäßig kleinen Kreis der Bevölkerung als zweckmäßig empfunden werden. Die Stadtplanung verzichtet daher auf die Ausführung irgendwelcher Hochhäuser für Wohnzwecke und beabsichtigt lediglich einen Wiederaufbau der vorhanden Stadtgebiete nach einem zweckmäßigen, der heutigen Zeit angepassten Bebauungssystem." (StA Saarbrücken, G60 Nr. 338)

An einem anderen Ort hatten die beiden Architekten nur wenig später mehr Fortune. Unweit von Saarbrücken, in der Stadt Briey-en-Forêt, erstellte Pingusson 1952, kurz nach seinem Fortgang aus dem Saarland, den Bebauungsplan. Dort konnte er die Gemeinde überzeugen, Le Corbusier den Auftrag für eine "Unité d’Habitation" zu erteilen. Diese wurde dann auch (1960) gebaut.



Gründe für den Widerstand gegen den Wiederaufbau-Plan
Für den Widerstand gegen die Neubau-Pläne der Militärregierung gibt es aus heutiger Sicht durchaus nachvollziehbare Gründe. So war der rasche Wiederaufbau der Ruinen sicherlich das Gebot der Stunde und entsprach der Mentalität der Menschen. Es war ohne Zweifel die schnellste Methode, der obdachlosen Bevölkerung Wohnraum zu verschaffen. Viele Details der Planung Pingussons waren schwer finanzierbar und deshalb nur langfristig realisierbar. Die Menschen in ihrem Elend ausharren zu lassen, konnten die Planer der "Exekutive" aber nicht verantworten. Das Vorhaben, sie vorübergehend in schnell aufzubauenden, demontablen Fertighäusern unterzubringen, hat nicht funktioniert. Zu diesem Zweck war Jean Prouvé hinzugezogen worden. Auch stand das geltende Baurecht, welches das Eigentum an Grund und Boden schützte, der großflächigen Überformung der Stadt entgegen. Und nicht zuletzt sprechen auch moderne städtebauliche Grundsätze für die Intension, historische Kontinuität im Wiederaufbau wirken zu lassen, also Respekt vor dem baulichen Erbe, dem Schaffen der vorangegangenen Generationen, zu bezeugen.

Das ist heute sicher leichter zu erkennen und zu verstehen als damals. Die Soziologie mit ihren städtebaulichen Analysen und den daraus abgeleiteten Forderungen nach Mitbestimmung und Sozialplan im modernen Städtebau übte ihren positiven Einfluss erst ab den 1970er Jahren aus.

Die internationale Avantgarde jener Zeit dachte noch anders. So führte die von Le Corbusier propagierte Maxime des "hygienischen Stadtumbaus", welche die ideale Besonnung und Belüftung der Wohnungen zum wichtigsten Ziel erhob, innerhalb des "neuen Bauens" zur Verneinung des Stadtraums. Nach dieser Logik polemisierte Le Corbusier beispielsweise gegen Straßen und Plätze der historischen Stadt: "il faut tuer la rue-corridor" (Lampugnani 1986, S. 134). Es ist unübersehbar: von da resultierte letztlich die neue Städtebaustrategie Pingussons: Abriss der alten Bausubstanz (zumindest in Alt-Saarbrücken) und Bau von frei im Grünen stehenden mehrgeschossigen Zeilenbauten.


Die außenpolitische Dimension des Wiederaufbauplans
Oberbaurat Cartal, der Widersacher, hatte prinzipiell eine hohe Meinung von Pingussons planerischen Fähigkeiten (was in den hinterlassenen Dokumenten durchaus zum Ausdruck kommt). Von seiner Grundeinstellung her war er sicher nicht gegen Frankreich und "die Franzosen" eingenommen. 1933 war er in das Saargebiet und - nach der Saarabstimmung von 1935 - nach Frankreich emigriert (Höhns 1992, Anmerkungen). Von den modernen Theorien war er somit - anders als in Deutschland - in den Kriegsjahren nicht abgeschnitten gewesen. Seine entschiedene Gegnerschaft zu den Scheibenhochhäusern, welche nach dem Plan Pingussons die ehemalige Bebauung in Alt-Saarbrücken ersetzen sollten, ist aber eindeutig und hinreichend dokumentiert. So bleibt die Vermutung, dass Cartal, außer den Tagesproblemen, auch andere Städtebauprinzipien, z.B. die Furcht vor dem Verlust von Urbanität antrieben, als er sich dem Flächenabriss und der "Totalabräumung" in Alt-Saarbrücken entgegenstellte.


Pingusson dagegen war sehr stark motiviert durch die Diskussionen innerhalb der Kongresse der CIAM, welche immer wieder die Zukunft der Städte zum Thema hatten. Er sah zudem die außenpolitische Dimension seines Plans: Saarbrücken als Zentrum einer wachsenden, multinationalen Region und einer Einwohnerzahl von weit mehr als 200.000 Menschen. Das alte, überkommene Saarbrücken sah er nicht ausreichend aufgestellt für diese Aufgabe. Somit trafen zwei völlig unterschiedliche Positionen aufeinander. Die pflichterfüllten Pragmatiker, die tagtäglich die große Not aber auch den ungeheuren Aufbauwillen der Bevölkerung vor Augen hatten, und der von der Siegermacht beauftragte Stadtplaner, der als Verhinderer oder Bremser gesehen wurde, der aber nicht zulassen wollte, dass eine Stadt erst saniert, wiederaufgebaut und anschließend, vielleicht schon nach wenigen Jahren in wesentlichen Teilen wieder abgerissen werden müsste, weil sie dann vielleicht ihre Aufgaben nicht mehr würde erfüllen können.



Zur Verkehrsplanung
Den größten Widerstand erfuhr Pingusson in Saarbrücken mit seiner Verkehrsplanung. So verwundert es kaum, dass davon nur wenig realisiert wurde. Doch gerade die Verkehrsplanung, selbstverständlich im Entwurfsplan nicht bis zum i-Tüpfelchen durchdacht, war der bei weitem interessanteste Teil seines Plans. Wäre man ihm gefolgt, hätte dies den Saarbrückern in den folgenden Jahren sehr viel Verdruss erspart.

Pingusson plante für den Fernverkehr einen Autobahnring rund um Saarbrücken in Form von Tangenten. Ausgeführt wurde nur eine davon: die südliche Umfahrung (, die aber bereits, wenn auch in etwas anderer Form, in den 1930er Jahren als "Reichsautobahn" geplant war). Sie sollte sowohl als Fernstrecke nach Paris als auch als Umfahrung der Stadt dienen. Doch selbst hier wurde nur ein kleiner Teil, und zwar nach dem Abschied Pingussons aus Saarbrücken, realisiert.

Der von Pingusson geplante autobahnähnliche Abzweig zum Deutschmühlental und seine Weiterführung über eine neu zu errichtende Schanzenbergbrücke endet heute an der Metzerstraße. Ob eine Trasse als Ersatz für die von Pingusson geplante Nordumfahrung heute, nach erheblicher Bautätigkeit in diesem Bereich, noch gefunden werden kann, erscheint eher unwahrscheinlich. Das gleiche gilt für eine Osttangente.

Ein großes Straßenkreuz, streng Nord-Süd bzw. Ost-West orientiert, wurde bisher sehr unterschiedlich gedeutet: als Straße für den Durchgangsverkehr oder als Prachtstraße. Es scheint aber, diese beiden Straßen waren als Transversalen mit Sammlerfunktion gedacht, trotz Kreuzungsfreiheit eher als Pracht- denn als Schnell- oder Durchgangsstraßen, aber mit einer bisher unerwähnten Funktion: als elementares Orientierungsmerkmal im Stadtbild, dies wegen der klaren, kompromisslosen Strenge der Ausrichtung, eher nach den Himmelsrichtungen als etwa nach der Topographie, historischen Gegebenheiten oder einer besonderen Zweckmäßigkeit orientiert. Sie teilten, ob gewollt oder ungewollt, die Stadt gewissermaßen in Quartiere: in eine Nord-Ost-, eine Süd-Ost-, eine Süd-West und eine Nord-West-Stadt.


Um eine Vorstellung zu bekommen, was mit diesem Straßenkonstrukt bezweckt werden sollte, muss man sich die Veröffentlichungen der 1920er und 1930er Jahre zur "futuristischen und funktionellen Stadt" (Pfankuch, Schneider und Wendschuh, 1977, S. 2/98 ff) anschauen und sich mit den Vorschlägen beispielsweise von Auguste und Gustave Perret (1922) und Le Corbusier (1925) für Paris, Karl Moser (1933) für Zürich oder Cornelis van Eesteren für Berlin (1925) vertraut machen. Georges-Eugène Haussmann hat es in Paris schon 100 Jahre früher vorgemacht und mit Hilfe feudaler Macht radikal umgesetzt.

In Paris mag die damit verbundene, radikale Überformung der Stadt durch monumentale Sichtachsen, die letztlich auch einen militärischen Hintergrund hatten, die Stadt tatsächlich in die Zukunft geführt haben, in Saarbrücken aber erscheint, aus heutiger Sicht, dieser Vorschlag Pingussons als am wenigsten von all seinen Vorschlägen begründet. Gerade dieses Straßenkreuz - vor allem die Ost-West-Achse - stieß auch auf Seiten der deutschen Planer auf entschiedene Ablehnung. In seiner Stellungnahme zum Bebauungsplan Pingussons mit der Überschrift "Unterscheidungsmerkmale zwischen dem Bebauungsplan der französischen Militärregierung und den Wiederaufbauabsichten der Stadtbauverwaltung..." mokiert sich Cartal über den schematischen Verlauf der Achse "Heuduck-/Stengelstraße, schräge Saarüberquerung, Durchschneidung von Gerber- und Landwehrplatz, um im Bruchwiesengebiet vor irgendeinem beliebigen Hochhaus, das sich in keiner Weise städtebaulich von den übrigen unterscheidet, zu enden." (StA Saarbrücken G60 Nr. 338; Datum der Übersetzung 16. Dezember 1946).

 

Für einige der innerstädtischen Geschäftsstraßen, insbesondere für die Bahnhofstraße, Dudweilerstraße, Kaiserstraße, Viktoriastraße und die Eisenbahnstraße erwartete Pingusson für die Zukunft einen wesentlich stärkeren Autoverkehr, den die vorhanden Straßenbreiten seiner Ansicht nach nicht aufnehmen konnten. Sein Lösungsvorschlag: die Einrichtung von Arkaden. Die Straßen ließen sich so fast bis an die Fassaden der Häuser verbreitern. Die Bürgersteige wurden 5 m breit in den Häusergrundriss verlegt. Zum Ausgleich durften die Grundstückseigentümer die Hofflächen bebauen. Die Kellerbereiche unter den Arkaden mussten für die Verlegung von öffentlichen Leitungen zur Verfügung gestellt und freigehalten werden.

Zuerst von den Hauseigentümern bekämpft, entwickelten sich die Arkaden wegen ihrer besonderen Vorteile bei schlechter Witterung zum Erfolgsmodell, welches sich weit über die Grenzen herumsprach. Pingussons Urheberschaft für die Arkaden in Saarbrücken ist eindeutig belegt: Schreiben vom 20.9.48 von Stadtbaudirektor Wilhelm Feien an den Beigeordneten Triebel, Mönchen-Gladbach, der eine entsprechende Anfrage gestellt hatte: "… für die Stadt Saarbrücken wurde ein Neuordnungsplan aufgestellt und zwar durch einen von der Militärregierung des Saargebietes beauftragten französischen Chefarchitekten. Dieser Neuordnungsplan sah für die vier Geschäftsstraßen des Stadtinnern eine Aufweitung des Verkehrsraumes dieser Straßen vor… Da die Grundstücke vielfach eine geringe Bautiefe haben, sieht der Plan vor, die Bürgersteige unter Arkaden zu verlegen..." (StA Saarbrücken, G 60, Nr. 104). Aus Respekt vor der hohen Denkmal-Qualität des historischen St. Johanner Marktes wollte Pingusson ihn für den Autoverkehr sperren. Die Fußgängerzone hätte man somit, wäre man dem Vorschlag gleich gefolgt, schon in den 1950er Jahren, also mehr als 30 Jahre früher, einrichten können.

Pingusson plante keine Fluss begleitende "Stadtautobahn" durch Saarbrücken. Sein Plan sah normale Straßen, er nannte sie "Allee am Saarufer", auf beiden Seiten der Saar vor. Doch nur am linken Saarufer wurde der Vorschlag auch umgesetzt und bestand als "Saaruferstrasse" bis zum Bau der Autobahn A 620 (der ersten Stadtautobahn der Bundesrepublik). Die Stadtautobahn gründet auf einem Vorschlag des Verkehrsplaners Professor Feuchtinger, umgesetzt wurde sie von Hans Krajewski. (Krajewski 1981, S. 152)

In einer überarbeiteten Version des Aufbauplanes von 1947-48, bekannt ebenfalls durch ein großes Massenmodell, ist das vorgeschlagene Geschäfts- und Regierungsviertel ausgearbeitet. Die Nord-Süd-Transversale ist hier Mittelpunkt der Darstellung. Diese tangiert einen großen Platz, mit der neu zu errichtenden Präfektur, im weiteren Verlauf Richtung Malstatt befinden sich Hochhäuser für Regierung und Verwaltungsfunktionen: das neue Stadtzentrum. Auf der gegenüberliegenden linken Saarseite sind bei dieser Entwurfsvariante nur noch vier Hochhausscheiben statt sieben zu sehen. Die weitere Bebauung Alt-Saarbrückens ist gegenüber der ersten Entwurfs-Fassung kleinteiliger und niedriger. Pingusson hatte sich kompromissbereit gezeigt.

Einer der vier Zeilenblöcke wird später die Funktion der französischen Botschaft im neuen Saarstaat erhalten. Botschafter Gilbert Grandval wählte als Architekten für den Neubau des Botschaftsgebäudes den Mann, der Ende 1949 resigniert seine Stelle als Stadtplaner in Saarbrücken aufgegeben hatte und nun wieder als freier Architekt zur Verfügung stand: Georges-Henri Pingusson. Er plante und errichtete das Gebäude zusammen mit zwei saarländischen Kollegen, den Architekten Bernhard Schultheis und Hans Bert Baur, fertig gestellt wurde es 1954 (Haufe-Wadle 2006, S. 8). Später wurde es Sitz des Saarländischen Kultusministeriums. Otto Renner, auch Herausgeber der Zeitschrift "Natur und Technik" schrieb: "Mit der Wahl des Bauplatzes an der Saaruferstraße für den Neubau der französischen Botschaft ist der durch Kriegseinwirkung fast vollständig zerstörte Stadtteil Alt-Saarbrücken um ein markantes Gebäude im Geiste (des) modernen europäischen Bauens bereichert worden. Es wäre zu wünschen, dass Maßstab und Rhythmus dieser Bauweise eine Fortführung erfahren... Durch die Anordnung eines Hochhauses kann man auf demselben Gelände die so wohltuenden und in unserer Stadt fast ganz fehlenden Grünflächen auch in kleinem Rahmen schaffen." (Natur und Technik 1955, S. 56f)

Pingusson kam mit Enthusiasmus nach Saarbrücken. Er unterbrach eine große Architektenkarriere in Frankreich, um im Saarland eine - wie es ihm schien - wichtige Aufgabe zu erfüllen: Saarbrücken zu einer der modernsten Städte Europas umzugestalten. Damit ist er gescheitert. Hinterlassen hat Pingusson viele Ideen, die bis heute in den Köpfen der Stadtplaner für Unruhe sorgen, etwas bedrucktes Papier in den Archiven und ein einziges Gebäude: das ehemalige Botschaftsgebäude des Gilbert Grandval, eines Franzosen, der es gut mit dem Saarland meinte, auch wenn er dabei an Frankreich dachte.

 

Dietmar Kolling    

 

Literatur

  • Die Saar. Städtebau im Saarland. Saarbrücken 1947
  • La Sarre. Urbanisme en Sarre. Saarbrücken 1947
  • Gilbert Grandval. In: Urbanisme. Revue Mensuelle de l’Urbanisme Français de l’Equipement et des Travaux des Collectivités Locales, 16e Année Nr. 115, Mai 1947
  • Bau Zeitschrift wohnen arbeiten sich erholen. Nr. 1, 1. Jg., Saarbrücken 1947
  • Urbanisme, Nr. 115, 16. Jg., Paris 1947
  • Walter Gropius: Architektur. ­Frankfurt 1955
  • Natur und Technik. Zeitschrift für Kunst, Naturwissenschaft, Technik. ­Heft 4, Saarbrücken, 1955, S. 56f
  • Bauen + Wohnen 1957, Heft 1
  • Le Corbusier: An die Studenten - Die 'Charte d‘Athènes'. Reinbek 1962
  • Norbert Huse: Le Corbusier in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek 1976
  • Peter Pfankuch, Martina Schneider und Achim Wendschuh: Von der futuristischen zur funktionellen Stadt - Planen und Bauen in Europa 1913-1933. In: Tendenzen der Zwanziger Jahre. 15. Europäische Kunstausstellung unter den Auspizien des Europarates, Berlin, Neue Nationalgalerie vom 14. August bis zum 16. Oktober 1977. Ausstellungskatalog, Berlin 1977, S. 2/1-2/208
  • Hans Krajewski: Schaffenskreise. Architekt und Stadtbaurat in Bremen, Leverkusen und Saarbrücken. Saarbrücken 1981
  • Vittorio Magnago Lampugnani: ­Architektur als Kultur. Die Ideen und die Formen. Aufsätze 1970-1985. Köln 1986
  • Hubert Hoffmann. In: Der deutsche Werkbund 1907, 1947, 1987. Berlin 1987
  • Peter Adam: Eileen Gray. Architektin/­Designerin. Schaffhausen 1989
  • Ulrich Höhns: Saarbrücken: Verzögerte Moderne in einer kleinen Großstadt. In: Klaus von Beyme, Werner Durth u.a. (Hg.): Neue Städte aus Ruinen. Deutscher ­Städtebau der Nachkriegszeit. München 1992
  • Jean-Louis Cohen: Le Corbusier 1887-1965. Köln 2004
  • Rémi Baudouï: Jean Prouvé: von der Résistance zum Experiment Saarland. In: Alexander von Vegesack (Hg.): Jean Prouvé - Die Poetik des technischen Objekts. Ausstellungskatalog Vitra Design Museum, Weil am Rhein 2006, S. 186-193
  • Simon Texier: ­Georges-Henri Pingusson. ­Architecte, 1894-1978. Editions Verdier. Paris 2006
  • Anne Katrin Haufe-Wadle: Repräsentation zwischen Funktionalismus und Poesie. Zur Architektur der ehemaligen 'Ambassade de France' von Georges-Henri Pingusson. In: Saar­Geschichten, Heft 2, Saarbrücken 2006, S. 8-13
  • Marlen Dittmann und Dietmar Kolling: Georges-Henri Pingusson und der Bau der Französischen Botschaft in Saarbrücken. (Hg. Deutscher Werkbund Saarland und Institut für aktuelle Kunst) Saarbrücken 2011 >>>

 

 

Redaktion: Oranna Dimmig, Claudia Maas


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